Mirli´s Lesecafé – Jaffa Road

Meine Lieben, mir ist jetzt schon bewusst, dass ich mich selbst gleich viel zu sehr unter Druck setzen werde, um dieses Buch auf die ihm gebührende Weise vorzustellen. Es kommt wirklich nur sehr selten vor, dass es mir so wichtig ist, alles richtig zu machen, damit dieser Roman am besten von jedem gelesen wird, der lesen kann. Für mich war es auf alle Fälle mein Buch des Jahres, vielleicht sogar eins der zehn besten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Aber wie gesagt, nur kein Druck.
Nichts bestimmt momentan die täglichen Nachrichten so sehr wie der Krieg im Nahen Osten. Das sind wir gewohnt, denn immer wieder flammt dieser Krisenherd auf. So richtig auskennen, was dort passiert, tut man aber eigentlich nicht. Natürlich sind einem grob die Fakten bekannt, man hat sie zumindest irgendwann mal in der Schule gelernt oder hier und da immer wieder aufgeschnappt. Aber was all dies tatsächlich bedeutet, sind wir mal ehrlich, wissen die meisten nicht so richtig.
Ich selbst war genauso unwissend – bis ich dieses Buch gelesen habe.
Nichts lässt einen Geschichte besser verstehen, als wenn man in persönliche Schicksale eintaucht. Niemand konnte mir bisher so gut erklären, was da im Nahen Osten abgeht, bis ich diese Geschichte(n) gelesen habe. In sie eingetaucht bin. Sie gefühlt habe. Endlich, endlich kann ich zumindest ansatzweise verstehen, WAS all diese Nachrichten, die Geschehnisse, die Angriffe, diese Gewalt bedeuten. Woher sie kommt, diese Gewalt. Was sie begründet. Ich bin Pazifist durch und durch, lehne jede Art von Gewalt ab. Aber etwas habe ich nun begriffen, dort im Nahen Osten ist jeder Täter genauso Opfer und jedes Opfer genauso Täter, auf die eine oder andere Weise.
Ich habe lang überlegt, ob die Adventszeit wirklich der passende Zeitpunkt ist, dieses Buch ins Regal in unserem Lesecafé zu stellen, bis ich zum Entschluss gekommen bin, es gibt überhaupt keinen besseren Zeitpunkt dafür. Auch weil ich finde, dass es eine perfekte Geschenksidee ist. Deshalb – reist mit mir durch die Geschichte, in fremde Welten, und in diese Geschichte, denn vertraut mir, ihr werdet es keine Sekunde bereuen, alles Liebe, x S.Mirli!

Buchvorstellung: “Jaffa Road”

Autor: Daniel Speck
Erscheinungsdatum: 24. März 2021 im FISCHER Taschenbuch Verlag
Seitenanzahl: 672
Preis: 17,47€

Klappentext: Eine Villa am Meer unter Palmen: Die Berliner Archäologin Nina reist nach Palermo, um das Erbe ihres verschollenen Großvaters Moritz anzutreten. Dort begegnet sie ihrer jüdischen Tante Joëlle – und einem mysteriösen Mann, der behauptet, Moritz’ Sohn zu sein. Elias, ein Palästinenser aus Jaffa.
Haifa, 1948: Unter den Bäumen der Jaffa Road findet das jüdische Mädchen Joëlle ein neues Zuhause.
Für das palästinensische Mädchen Amal werden die Orangenhaine ihres Vaters zur Erinnerung an eine verlorene Heimat.
Beide ahnen noch nichts von dem Geheimnis, das sie verbindet, in einer außergewöhnlichen Lebensreise rund ums Mittelmeer.

Drei Familien, drei Generationen, drei Kulturen – und ein gemeinsames, bewegendes Schicksal.

Autor: Daniel Speck, 1969 in München geboren, baut mit seinen Geschichten Brücken zwischen den Kulturen. Durch seine Reisen und seine Recherchen trifft er Menschen, deren Schicksale ihn zu seinen Romanen inspirieren. Der Autor studierte Filmgeschichte in München und in Rom, wo er mehrere Jahre lebte. Er verfasste Drehbücher, für die er mit dem Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde.

“Ich hatte meinen Spaß, ja, aber das Leben beginnt erst, wenn du es einer Sache widmest, die größer ist als du.”

“Ich fühlte mich betäubt, verwirrt, aber vor allem: betrogen. Der Mann, den wir gemeinsam suchten, war gestorben, bevor wir ihn finden konnten. Mein Großvater, ihr Vater, der ewig Verschollene.”

Als Nina von einem Nachlassverwalter den Anruf erhält, sie solle auf schnellstem Wege nach Palermo reisen, ihr Großvater sei gestorben, sind es genau diese Gefühle, die allesamt auf sie einprasseln. Wie um jemanden trauern, den man überhaupt nicht kannte? Wie jemanden kennenlernen, der nicht mehr lebt? Und weshalb Tore in die Vergangenheit öffnen, die nur unzählige Fragen aufwirft, die nun niemand mehr beantworten kann? Oder?

“Das war unsere erste Begegnung, drei Fremde vor der Haustör eines Verschwundenen, unter Palmen, an einem windigen Frühlingstag.”

Jaffa Road handelt von einem Mann, der drei verschiedene Leben führte: Maurice. In jedem dieser Leben hat er neue Leben zurückgelassen und diese treffen nun an dem Ort, an dem sein eigenes Leben ein Ende fand, aufeinander. Nina, die Enkelin aus Deutschland, Joëlle, die jüdische Tochter aus Israel und Ninas Tante, und zuletzt Elias, der Sohn einer Palästinenserin, von dem weder Nina noch Joëlle wussten, dass er überhaupt existiert.

“Und so ist alles, was nun folgt, die Erinnerung an eine Erinnerung. Nicht die Geschehnisse selbst, sondern ihre Wahrnehmung durch die Menschen, die sie durchlebt haben und durch ihre Kinder, denen davon erzählt wurde … Und jeder erinnert sich auf seine Weise.”
“Das Gedächtnis ist kein Archiv; es ist launisch, wählerisch und schwer zu fassen. Es verbindet uns nicht nur mit der Vergangenheit, sondern schützt uns auch davor. Wer die ganze Wahrheit wissen will, muss daher dem eigenen Gedächtnis misstrauen und sich selbst in der Erinnerung der anderen suchen.”

In Zeitsprüngen lässt uns der Autor durch die Geschichte reisen, lässt durch seine besondere und einzigartige Erzählweise farbenprächtige und exotische Bilder in unseren Köpfen entstehen. Man meint regelrecht, die Grillen zirpen zu hören, man riecht und schmeckt und fühlt all das, was die Protagonisten fühlen – im wahrsten Sinne des Wortes. Dieses Buch einen Pageturner zu nennen, schmerzt beinahe. Es ist ein zu modernes, unpassendes Wort, aber trotzdem ist diese Geschichte exakt das, etwas, das man nicht zur Seite legen kann, bis man jeden Ort besucht, bis man jedes Geheimnis enthüllt, bis man die Antworten auf all die offenen Fragen erhalten hat.

“Die Abwesenden sind mächtiger als die Anwesenden; das hatte ich schon als Kind gelernt, denn unser ruheloser Geist toleriert keine Leere, muss sie mit Hörensagen ausfüllen, auch wenn es Lügen sind; alles ist erträglicher als das Nichts.”

Ich selbst habe das Buch mit beinahe 700 Seiten in nicht einmal vier Tagen zu Ende gelesen, was ich absolut nicht so geplant hatte. Immer wieder musste ich es zur Seite legen, das Gelesene verarbeiten, Brücken zur Gegenwart bilden, um alles besser zu verstehen. Und doch ist dieses Thema so komplex, dass man es wahrscheinlich niemals richtig begreifen kann.

“In diesem Moment verstand Amal etwas, das sie ihr Leben lang nie vergessen würde: Wenn du keine Wahl mehr hast, hast du immer noch die Wahl, deine Würde zu bewahren.”

Wir alle kennen Bilder von Flüchtlingslagern – wo auch immer auf diesem Planeten – durch Nachrichtensendungen. Wir kennen Bilder von Kämpfen, von Terroranschlägen, von Blut, Gewalt und Vernichtung. Und trotzdem sind es abstrakte Bilder, zu denen wir keinen Bezug haben. Wir sind abgestumpft und haken es als, aha, ist es mal wieder so weit, ab. Etwas kann ich jetzt schon mit Sicherheit sagen, in Zukunft lassen mich solche Nachrichten nicht mehr kalt, denn ich habe gefühlt, wie es ist, eingepfercht in so einem Lager zu leben, keine Identität, keine Heimat zu haben oder dieser entrissen zu werden. Ich habe es erlebt, da mich der Autor so sehr in diese Leben hat eintauchen lassen. Es mich fühlen hat lassen.

“Es gab Dinge, die kein Kind wissen sollte. Und doch kam der Punkt, an dem die Liebe eines Vaters nicht mehr ausreichte, um es von der Grausamkeit der Welt fernzuhalten.”

Wenn man etwas nicht verstehen kann, oder wenn es schwerfällt, etwas richtig zu sehen, hilft es, die Perspektive zu wechseln. Alles aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, und genau das schafft Jaffa Road. Die Geschichte eines Landes, die Geschichte all der Menschen, die ihre Wurzeln dort haben, von ihnen selbst zu erfahren. Auch wenn dieser Roman fiktiv ist, bin ich mir sicher, dass diese Geschichten genau so tausende Male erlebt wurden.

“Wir sind nicht allein, dacht Maurice. Jede Seele auf dem Schiff hat noch zwei, drei weitere Seelen mit sich herumgetragen, all die Toten, die niemand begraben konnte.”

Wie ihr seht, ich rede hier eigentlich die ganze Zeit nur um den heißen Brei herum, da ich euch nichts von diesem Buch vorwegnehmen möchte. Ich will euch neugierig und interessiert machen, um euch dazu zu bringen, euch die Geschichte durch Maurice, Nina, Joëlle, Amal und Elias erzählen zu lassen, um zu lernen. Um zu verstehen.

“In einer idealen Welt”, sagte Joëlle, “müssten wir uns nicht um ein kleines Stück Land streiten. Aber solange es Antisemitismus gibt, brauchen wir Juden einen sicheren Hafen.”
“Und du denkst, wir Palästinenser werden in dieser Welt nicht diskriminiert? Wer gibt euch ein größeres Recht auf unsere Heimat als uns? Gott? Die Amerikaner?
Vielleicht gehört das Land weder ihr noch ihm, denke ich, sondern beide gehören dem Land, so besessen sind sie davon, so leidenschaftlich lieben sie es.

Fazit: Maurice oder Moritz, ein fahnenflüchtiger Soldat bzw. Fotograf der Wehrmacht, der sich in Tunis in eine Jüdin verliebt und in Deutschland Frau und ungeborenes Kind zurücklässt. Maurice, ein Mann, der unter falscher Identität als Jude im neu gegründeten Staat Israel lebt und dort eine Tochter großzieht. Maurice, ein Mann, der das Kind einer Palästinenserin aufzieht, und nicht ganz unschuldig am Tod der Mutter ist. Maurice, ein Mann mit drei verschiedenen Leben, der doch eigentlich nie etwas anderes wollte, als ein ruhiges, glückliches Familienleben.
Ich weiß nicht, was ich mehr sagen soll, als: Lesen! Ja, das Buch macht etwas mit einem, es ist teilweise harte Kost, aber gleichzeitig eine einfühlsame, bewegende Reise durch exotische Länder, fremde Kulturen – und Geschichte. Immer wieder Geschichte. Man fühlt mit, man fiebert mit, man möchte trösten und beistehen und die Welt verändern. Mit solchen Geschichten fängt das Verändern an, darin bin ich mir sicher …

“Dann hat auf einmal jeder eine Meinung dazu, auch wenn er keine Ahnung hat. Je weniger Ahnung, desto mehr Meinung.”

eine Lieben, nachdem es nicht das erste Buch ist, bei dem ich mich selbst so sehr unter Druck gesetzt habe, um es richtig vorzustellen, habe ich inzwischen gelernt, dass ich sowieso nie zu hundert Prozent zufrieden mit mir bin. Trotzdem glaube ich – und hoffe ich -, dass ich geschafft habe, was mein Ziel war, euch neugierig zu machen. Durch die von mir ausgewählten Zitate und der Beschreibung könnte man annehmen, dass es in diesem Werk auf beinahe 700 Seiten nur um Tod und Leid geht, und auch wenn das auf gewisse Weise bei dieser Thematik natürlich nicht ausbleibt, ist es trotzdem in erster Linie eine Geschichte voll Gefühl mit interessanten Charakteren und spannenden Wendungen. Genau deshalb habe ich von der Handlung an sich nicht zu viel verraten, denn ihr sollt den Roman genauso unvoreingenommen und “neu” erleben können wie ich.
Momentan bin ich dabei, den Vorgänger des Buches “Piccola Sicilia” zu lesen, da ich mich in den Schreibstil Daniel Specks schlicht und einfach verliebt habe und bin schon wieder absolut gefesselt. Ich bin jetzt so gespannt, ob jemand von euch Jaffa Road bereits kennt, was das Buch mit euch gemacht hat oder natürlich, ob ihr euch vorstellen könnt, es zu lesen. 
Ich freue mich auf eine gemeinsame Leserunde hier in unserem Lesecafé mit euch. Alles Liebe, love&peace,