Teestunde – wie die Lemminge

Meine Lieben, “wie die Lemminge”, das hat doch schon jeder einmal gehört, diesen Ausspruch vielleicht sogar selbst verwendet, oder liege ich damit falsch?
Was diese Worte bedeuten und vor allem was das alles mit Paris zu tun hat (und warum das gerade die seltsamste Einleitung ever ist), genau darum geht es heute.

Kommen wir zuerst einmal zu den Grundlagen:
Lemminge sind eigentlich kleine Nagetiere. Bekanntheit erlangt haben sie durch den Disneyfilm “White Wilderness” aus dem Jahr 1958. In diesem Film wurde eine Massenwanderung von Lemmingen mit anschließendem kollektiven Freitod dargestellt. 
Lemminge laufen sich einfach hinterher und denken keine Sekunde nach, wo es denn hingehen könnte. Egal ob sie am Ende  sogar alle die Klippen runterfallen.

Oje, ich sehe jede Menge Fragezeichen über euren Köpfen aufblinken, lasst mich das also erstmal alles erklären. Vielleicht erinnern sich ein paar von euch, dass ich diesen Beitrag in einem meiner Paris-Reiseberichte bereits angekündigt habe?Immer wieder fragt ihr mich, wie ich zu den genialen Lokalen komme, in denen ich auf meinen Reisen lande. Die Antwort ist einfach: meist ist es so, dass ich mich vorher auf Internet-Recherche begebe, doch sehr häufig habe ich bereits, bevor ich das Reiseziel überhaupt kenne, schon ein paar Möglichkeiten in meiner Screenshot-Gallerie abgespeichert. Jedes Mal, wenn ich irgendwo auf eine Location stoße, die mir gefallen könnte – egal wo auf dem Planeten diese sich befindet -, mache ich einen Screenshot und sammle diese für später.
Na ja, und sehr häufig ist dies nicht einmal notwendig, denn an vielen gehypten Orten kommt man sowieso nicht vorbei – ob man will oder nicht.

Ein Lokal, auf das ich mich bei meiner Parisreise diesen Sommer mit am meisten gefreut habe, war das Café Kitsuné, an dem man, wenn man auf Instagram unterwegs ist, tatsächlich einfach nicht vorbeikommt. Ausnahmslos jeder pilgert bei einem Trip in die französische Hauptstadt dorthin, hält seinen Becher brav in die Kamera und insofern war mir von Anfang an klar, dass ich dieses Café testen muss, denn das MUSS doch der beste Coffee-Shop in diesem Universum sein, wenn jeder – wie die Lemminge – dort hinläuft.
Ich will ehrlich sein, nicht zuletzt hat mich auch schlicht das Design der Becher angesprochen. Ich würde mich tatsächlich selbst als Verpackungs-Opfer bezeichnen, denn ich bin eine von denen, die Lokale (und Produkte) nach dem Interieur/Verpackung aussucht, das Speisen- oder Getränkeangebot ist dem sehr häufig untergeordnet.

Reden wir nicht lang um den heißen Brei – oder Kaffee – herum, was ich eh schon die letzten vierhundert Wörter über mache, kommen wir endlich zum Punkt:
Es ist Freitagmorgen, wir spazieren entlang der Tuilerien – haben uns für diesen Ableger des Cafés entschieden – und erreichen  das anvisierte Ziel. Ich bestelle mir einen Chai Latte, versuche mich nicht über die leicht hochnäsige Behandlung zu ärgern und nehme nach kurzer Zeit den heißersehnten Becher in die Hände. Zurück in den Tuilerien suche ich mir ein Bänckchen im Schatten, mache meine obligatorischen Fotos und dann, endlich, nehme ich den ersten Schluck … nehme noch einen … und noch einen … und joa!
Nicht, dass er nicht geschmeckt hätte, aber so ungefähr jeder Chai, den ich bisher getrunken habe, war besser.

Und dann sitze ich auf meinem Bänkchen, starre den Becher an und frage mich:

“Warum noch mal laufen wir alle in dieses Café?”

Vielleicht habe ich einen schlechten Tag erwischt?
Ich will fair sein, ein neuer Versuch muss her.
Es ist der nächste Tag, das Thermometer klettert über die dreißig Grad Marke und ich denke mir, probieren wir es doch diesmal mit einem Iced Chai.
Ich entscheide mich extra für eine andere Lage des Lokals direkt im Jardin du Grand Palais.
Ich bin richtig motiviert, öffne schwungvoll die Glastür, gebe meine Bestellung für einen Iced Chai auf wie vor der Tür auf der Tafel angepriesen – und …
Kopfschütteln.
Kein Eis vorhanden.
Gut, wer rechnet schon bei über dreißig Grad, dass jemand ein eisgekühltes Getränk bestellen könnte.

Nächster Tag, nächster Versuch.
Diesmal verzichte ich gleich aufs Eis, bestelle mir einen Chai Latte.
Kopfschütteln.
Der Chai ist aus.Okay, kein Problem, ich gehe zu einer anderen Café Kitsuné Adresse nur ein paar Straßen weiter und yay, hier kann ich endlich meinen Chai bestellen. Alle guten Dinge sind … äh … eins, nein zwei, drei … okay vier. Egal!
Diesmal werde ich endlich die Begeisterung verstehen können – ich bin mir sicher.
Ich nehme meinen Becher entgegen, spaziere zum nächsten Jardin, lasse mich direkt am Brunnen nieder, lege an diesem doch etwas kühlen Morgen meine Finger um den warmen Becher, führe meine Lippen voll vorfreudiger Erwartung an den Becherrand, nehme einen großen Schluck …
und verziehe das Gesicht.

Mein Chai entpuppt sich als Kaffee.
Den ich nicht bestellt habe.
Den ich nicht bezahlt habe.
Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass so ein kleiner Becher Chai 6€ kostet – oder waren es sogar 7€?

Es hilft alles nichts, mein endgültiges Fazit steht fest: überteuert, nicht besonders freundlich, nicht besonders im Geschmack (auch nicht der Kaffee laut Meinung meines Mannes) und nicht sehr kompetent. Und da stellt sich doch noch mal die Frage:

Warum pilgern wir alle dort hin?

DAS ist die wohl längste Einleitung für einen Beitrag ever. Aber egal, die Frage steht: Warum tun wir das?
Ist mein Geschmack so anders als Mainstream? Liegt es daran, dass ich bisher noch beinahe jedes Mal, wenn ich ein gehyptes Lokal, Hotel, Was-auch-immer aufgesucht habe, enttäuscht wurde?
Liegt es an mir?

Ihr fragt euch gerade wahrscheinlich einfach nur, was ich mit diesen viel zu vielen Worten sagen will, oder?
Zumindest diese Frage kann ich ohne Probleme beantworten. Ich denke mir, vielleicht bin ich nicht die Einzige, der es nicht nur einmal so ergangen ist. Die sich denkt, wenn etwas so viele Menschen feiern, so viele Menschen anpreisen, jeder wie die Lemminge dem Aufruf folgt – da muss doch etwas dran sein!

Und genau dies ist der Grund, warum ich all das hier gerade schreibe. Nicht, weil ich diesem Lokal schaden will. Nicht, weil mir das meinen Urlaub verdorben hat (hat es eindeutig nicht). Nicht, weil ich mich zu sehr geärgert habe (von so etwas lasse ich mich bestimmt nicht ärgern). Nein, der Grund, warum ich das hier schreibe, ist einfach erklärt:
Ich habe Menschen vertraut, die ich für integer gehalten habe. Ich habe Menschen vertraut, deren Geschmack ich bisher nicht angezweifelt habe. Ich habe Menschen vertraut, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, dafür zu sorgen, dass die Lemminge ihnen überallhin folgen. Die richtig viel Geld damit verdienen und denen es offensichtlich egal ist, dass sie ihre Glaubwürdigkeit damit in die Tonne treten. Und das alles einmal zu oft.

Ja, das alles ist der Grund dafür, dass Social Media Marketing nicht mehr funktioniert bzw. früher oder später nicht mehr funktionieren wird. Irgendwann wird jeder so eine Erfahrung wie ich gemacht haben, diese Erfahrungen werden sich mehren und dann hat es irgendwann jeder begriffen: Ich kann mich nicht mehr darauf verlassen, dass jemand dieses Lokal besucht oder diesen Kaffee trinkt, weil er ihn wirklich mag. Ich kann mich nicht mehr darauf verlassen, dass die Rezensionen, die bei Google hinterlassen wurden, nicht gekauft sind. Ich kann mich nicht mehr darauf verlassen, dass hinter all dem nicht einfach nur ein riesengroßes Geschäft steckt.

Worauf ich mich allerdings sicher verlassen kann, dass Geld die Welt regiert. Dass, wenn der Betrag hoch genug ist, der geboten wird, Menschen ihre Ideale verkaufen. Ihnen ihre Glaubwürdigkeit egal ist. Hauptsache die Zahl am Konto stimmt.
Genau DAS ist der Grund für diese Worte.Bitte, hinterfragt alles, was ihr im Internet konsumiert. Nur weil die Masse etwas kauft, etwas isst, etwas macht, heißt das nicht, dass es das wert ist. Es heißt nur, dass ein großer Lemming vorgelaufen ist und alle anderen ohne zu denken gefolgt sind.
Keine Frage, Geschmäcker sind verschieden. Vielleicht bewerten andere diesen Kaffee/Chai für den besten der ganzen Stadt. Fakt ist aber auch, dass bei jedem Versuch etwas schiefgelaufen ist. Fakt ist, dass die Preise lächerlich hoch sind. Fakt ist, dass ich nicht mehr glaube, was mir im Internet vor die Nase gehalten wird. Und das solltet ihr auch nicht!

eine Lieben, ich hatte die Idee für diesen Beitrag genau im Kopf. Ich hatte sogar schon die Worte exakt vor mir, aber irgendwie wollten sie sich jetzt nicht aneinandersetzen lassen. Es ist tatsächlich zum ersten Mal der Fall, dass ich mir gerade nicht sicher bin, ob ich das so teilen will. Ich habe schon oft gezweifelt, wenn ich Themen angesprochen habe, die mir als heikel erschienen. Das ist hier überhaupt nicht der Fall. Diese Thematik und die Aussage dahinter ist mir unsagbar wichtig, aber ich bin sehr unzufrieden, wie ich es formuliert habe. Ich hoffe, ihr seid nicht ganz so kleinlich wie ich, denn ich springe über meinen Schatten und werde es genau so veröffentlichen, wie es jetzt ist.
Erzählt mir doch gerne, ob ihr vielleicht bereits ähnliche Erfahrungen gemacht habt, das würde mich ehrlich interessieren. Habt eine wunderschöne Woche und ich freue mich jetzt schon auf unser Wiederlesen. Alles Liebe, love&peace,